Hallo,
Nun ist es schon Mai und die verbleibenden Wochen in Coimbatore vergehen echt schnell. Bei Niewo und seiner Reiseagentursache ist noch nichts passiert, „tomorrow“...
Der Zeitbegriff ist hier aber auch echt relativ. Wenn man Freunde mal fragt, warum eigentlich alles so lange dauert (von kleinen Dingen am Tage, die Stunden brauchen) oder auch bis überhaupt was losgeht (dann in Wochen oder Monaten gerechnet), dann verstehen sie die Frage nicht mal. Ich glaub sie haben üüüüberhaupt keine Verständnis, was wir damit fragen wollen :-) Was wir nicht genau wissen, aber was man so liest: Ein Grund dafür soll der Glaube an die Widergeburt sein. Wenn man noch ein Leben hat, wieso sollte dann alles jetzt passieren. Aber diese Begründung ist, hm tja. Die Frage ist natürlich auch, warum bei uns immer alles SOFORT geschehen muss...
Laura hat sich nun in Berlin für einen Referendariatsplatz ab August be- worben, die Chancen stehen relativ gut. Ansonsten wäre Hamburg noch eine Möglichkeit im November. Niewo kann sich erst richtig bewerben, wenn Laura Mitte Juni eine Entscheidung bekommt. Die Jobangebote in Berlin kann man locker an zwei Händen abzählen und die sind auch fast immer mit min. fünf Jahren Berufserfahrung. Wird wohl also alles auf Initiativbewerbungen hinauslaufen. Wer also ein gutes Büro kennt...
Hier mal ein Auszug aus einer Unterhaltung, wie man sie ungefähr 10 bis 20 Mal täglich führt, wenn man unterwegs ist und z.B. in einem Taxi sitzt.
"Where from?
Your name?
Children?
No? - Ohhh.
Married?
No? - Ooohhh.
Why not married?
When will married?
First time India?
Job?
Which company?
When back Germany?"
Zufrieden mit den Information Ruhe für eine Minute…
"Like my service?
When next time India?"
Unsere letzten Wochenenden führten uns meist wieder in die Berge. Ist einfach so schön dort und vor allem schön kühl. Eine Fahrt mit der über 120 Jahre alten Nilgiri Mountain Railway war mit ein Highlight. Durchaus vergleichbar mit Schweizer Bergbahnen, was die Strecke betrifft: 250 Brücken, zig Tunnel, 2000 m Höhenunterschied und fünf Stunden Fahrt - und das Beste: gezogen bzw. eigentlich geschoben von einer Dampflok. Hoch sind wir 1. Klasse gefahren, da konnte man in Ruhe das Panorama genießen. Die Rückfahrt war bedeutend lustiger, 2. Klasse. Und die Inder wieder mal: wie die kleinen Kinder. Kaum war der Schaffner weg - alle springen auf, schreien, tanzen, ... und dann erst, wenn es in die Tunnel ging! Unbedingt das Video angucken...
Das Buch „The White Tiger“, beschreibt das Leben eines Servants (= Diener / Knecht in Indien. So gut wie jede indische Mittelklassefamilie hat ein oder mehrere Angestellte. Wobei das Wort Sklave wohl eher passt). Es war echt krass und hat unseren Blick auf das Land nochmal (leider zum negativen) verändert. Wie er dort beschreibt, was für ein Leben diese Leute führen. Und davon gibt es Millionen! Servants sind zwar entweder Fahrer oder Koch oder... Aber in jeder freien Minute müssen sie alle anderen Aufgaben im Haus und Hof erledigen. Sie wohnen meistens in kleinen Kellerkabuffs ohne Fenster und sind 24 Stunden am Tag im Einsatz. Sie leben fern von ihren Familien und sehen diese nur alle paar Monate oder Jahre (dank der Tatsache, dass man ihnen nie frei gibt – warum auch). Das wenige Geld, das sie verdienen, schicken sie heim, damit die Familie etwas zu essen hat. Als Dank werden sie ständig beschimpft und als absolute Untermenschen behandelt. Schläge, Kopfnüsse und Beleidigungen werden von den Herren als notwendig betrachtet und sind seit Jahrhunderten auf beiden Seiten tief verwurzelt. Die Angestellten empfinden dies auch als normal! Neben der absolut unwürdigen Art der Behandlung, ist auch nicht nachvollziehbar, warum so wenig Gehalt gezahlt wird, nur 20 Euro mehr würde schon so viel helfen.
Wenn man das Buch gelesen hat, tut einem sofort jeder Fahrer oder Torwächter, den man sieht, äußerst leid. Wie kann eine Gesellschaft so sein? So war es in Europa im Mittelalter zwar auch, aber seitdem hat sich ja dann doch einiges getan.
Unbedingt lesen, ist auch noch witzig geschrieben und macht somit Spaß zu lesen, kostet auch nur 6 Euro: The White Tiger von Aravind Adiga bei Amazon
Oder hier sogar auf Deutsch: Der Weiße Tiger von Aravind Adiga bei Amazon
Ein anderes Buch (Autor: der englische Financial Times Korrespondent von Indien), beschreibt, wie und warum sich Indien so entwickelt, wie es sich entwickelt. Ein Grund ist z.B., dass seit der Unabhängigkeit für englische Elite-Universitäten im Land genauso viel Geld ausgegeben wird wie für alle Schulen zusammen! Das erklärt, warum es zwar einige gut ausgebildete Spezialisten gibt – z.B. gibt es im Silicon Valley über 1000 indische Multimillionäre! –, aber immer noch nur 2/3 der Leute lesen oder schreiben können (und das meist schlecht). Die Bevölkerung in den Dörfern hat so gut wie keinen Zugang zu Bildung (und Gesundheitsservice etc.).
Auf dem Land haben die Leute nur so wenig Grundbesitz, dass davon meist nicht mal die Familie ernährt werden kann, geschweige denn Überschuss- waren verkauft werden könnten. Daher geht aus jeder Familie mindestens ein männliches Mitglied in die Städte und versucht dort einen (natürlich absolut bemitleidenswerten) Job zu finden. Das Geld wird nach Hause geschickt und sichert das Überleben von dutzenden Köpfen in der Familie. Dies trifft auf Arme und Reiche zu. Arme schicken 30 Euro – davon kauft die Familie Reis. Reiche arbeiten bei großen multinationalen Unter-nehmen und schicken 1000 Euro – davon kann ein großes Haus gebaut und unterhalten (inkl. Strom- versorgung, Klimaanlage etc.) sowie ein Auto gekauft werden...
Nur 7% (!!) der Inder haben einen offiziellen Job, d.h. zahlen z.B. Steuern. Der Rest arbeitet auf dem eigenen kleinen Stück Land, hat kleine inoffizielle Shops, fährt Rikschas, ist Wanderarbeiter oder arbeitet bei anderen schwarz. Das bedeutet natürlich auch, nur 7% der Menschen haben einen festen Job, bei dem man weiß, was morgen kommt.
Der Traum der meisten Leute ist ein Regierungsjob. Wer den hat, verdient gut. Das Beste daran ist aber, dass man jeden Tag Schmiergeld bekommt, um z.B. zu helfen einen Fernsehanschluss zu bekommen etc.
Die große Besonderheit in Indien ist wohl, dass das Land nicht die normale Entwicklung gemacht hat/macht, die jedes andere Land auf der Welt sonst durchläuft: Von einer rein agrarischen Gesellschafft über die Industrialisierung erst im Textilgewerbe hin zur Mechanisierung in allen Bereichen. Dann Entwicklung des Bildungs- und Gesundheitswesen. Und dann irgendwann erst entstehen Unternehmen, die Produkte auch auf dem Weltmarkt anbieten können. Indien hat durch die wenigen gut ausgebildeten und englisch sprechenden Studenten - das ist der entscheidende (Sprach-)Vorteil vor anderen Ländern! - einen großen IT-Sektor aufbauen können, der die USA und Europa dazu bewegt hat, viele Servicebereiche outzusourcen. Mit diesem Geld bildete sich die Mittelklasse, die inzwischen ähnlich der ersten Welt Länder lebt. Hier wird in den Weltraum geflogen, Atomraketen konnten entwickelt werden, Weltmarktführer im Medizinsektor entstanden. Alles Bereiche, in denen zwar viel Geld verdient wird, aber keine große Zahl an Arbeitskräften notwendig ist. Weniger als 1 Mio. Menschen im IT-Sektor produzieren mehr Geld als alle anderen 1,3 Mrd. Menschen zusammen! Das heißt, bei der großen Mehrheit der Menschen kommt absolut nichts an. So entstanden quasi zwei Welten in einem Land. Die Bauern bearbeiten ihre Felder noch immer wie in den letzten 2000 Jahren auch!
Und die Urbanisierung, in vielen Ländern inzwischen ein Problem, ist hier gewünscht und notwendig, stagniert aber seit Jahren. Damit ist Indien das einzige Land auf der Welt in dem (fast) keine Urbanisierung mehr stattfindet...
Und das schlimme: durch die Verbreitung des Fernsehens sehen die Leute jeden Tag Werbung für Dinge, die sie sich in den nächsten Jahrzehnten niemals leisten werden können. Ihre Herren aber sehr wohl. Sie hingegen haben Angst, was der nächste Tag bringt...
Fotos 15: Munnar, Kotagiri, Nilgiri Mountain Railway
lg N+L