Hallo,
vor unserer großen Reise nochmal eine Meldung von uns. Eigentlich ist alles wie immer. Nur langsam gehen uns doch einige Sachen ziemlich auf die Nerven. Bei Laura auf Arbeit lassen sich die Leute einfach nicht dazu bewegen, Dinge, die dringend erledigt werden müssen, auch termingerecht zu liefern. Das artet dann für sie oft in Stress aus. Die Inder sind sich natürlich keiner Schuld bewusst – „no problem“.
Oder z.B. gerade gestern: Vor der Stunde kommen ein paar Schüler zu Laura und teilen ihr mit, dass es heute für sie der letzte Unterrichtstag sei – und sie morgen deshalb die Prüfung schreiben müssen. Auf die Idee, sowas mal paar Tage oder Wochen vorher zu planen, kommt anscheinend nie einer...
In Deutschland wird aber leider auch nicht immer effizienter gearbeitet, mit Niewos neuem Arbeits-Visum zieht es sich grade hin. Hoffentlich kommt es noch pünktlich...
Niewo hatte Ende Januar gekündigt. Sein Chef wollte ihn zwar nicht gehen lassen (sein Ruf wird zerstört etc.), aber nachdem sein Guru - den seine Familie seit 30 Jahren in allen wichtigen Dingen befragt - seine Zustimmung gab, konnte er gehen. Was wohl passiert wäre, wenn der Guru nein gesagt hätte? Niewo wäre ja trotzdem einfach gegangen…
Dem Guru schreibt man meist und befragt ihn zum jeweiligen Anliegen - man muss aber keine Hintergründe erklären, er „weiß alles“, kennt also auch Niewos Leben usw. Auf Nachfrage, warum man denn dann überhaupt schreiben muss - dann müsste er ja auch von alleine wissen, dass man fragen will etc. (altbekanntes Problem der Wahrsagerei ne), musste Anjaneysh dann aber auch erstmal nachdenken…
By the way, Thema Verständigung. "Guru". Kann man ja nun nicht viel großartig aussprechen, denkt man. Als Niewo aber im Gespräch meinte, dass er nicht an Gurus glaube, sondern in Deutschland die Menschen für ihr Leben selber verantwortlich sind, meinte Anjaneysh „Häh, Guru?“ Nachdem Niewo zehn verschiedene Aussprachen probiert hatte und dann erklärte, dass man doch grade drüber geredet habe, über seinen "Lehrer", meinte er „Ah, my (sprich:) "Güru". Ähm ja, so viel Interpretation muss doch wohl drin sein, wenn man grad das Thema hat und dann ein Ausländer anstatt „Güru“ „Guru“ sagt, dass man dann erraten kann was gemeint ist?!?!
Dieses Problem ist auch eines, was extrem an den Nerven zehrt. Egal wo und wen man fragt, man braucht viele Anläufe bis die einfachsten Worte verstanden werden. Oder auch nicht, dann bekommt man trotzdem eine Antwort – bis sich dann später rausstellt, dass diese komplett falsch war. Oh Mann…
Laura hat grad mal wieder mit den Frisören zu kämpfen, die machen hier alle nur Scheiß. Und das, obwohl sie schon extra in die beiden Luxussalons der Stadt gegangen ist. Naja, wächst ja nach…
Nachdem Christa (die Professorin) nun eine Weile hier ist und auch die Mutter von Veronika, beide so ca. 50-60 Jahre alt, merkt man erstmal, wie anders wir als junge Leute hier klarkommen. Sie berichten, dass es für sie extrem schwer ist hier zu laufen, weil überall Stufen und Stolperfallen lauern. Dazu gibt es ja keine Bürgersteige. Und dann der Verkehr von allen Seiten - nebst Lärm. Das macht ihnen wohl richtig zu schaffen. Woran wir uns nach paar Tagen gewöhnt hatten, geht wohl bei Älteren nicht mehr so einfach. Christa meinte z.B. dass sie die vollen fünf Jahre in Mumbai immer und überall mit Fahrer gefahren wurde!
Ein anderer Lehrer, der vor Laura hier unterrichtete, verließ das ganze Jahr nicht die Stadt, weil ihm der Verkehr auf den Landstraßen zu gefährlich war!
Generell muss man leider sagen, dass 99% der Inder überhaupt nicht vorausdenken können. Sei es ihm Verkehr oder im Beruf oder Alltag, es wird überhaupt nicht nachgedacht, was passiert wenn dieses oder jenes passiert. Teilweise kann man es echt nicht fassen, was da für Entschlüsse gefasst werden. Ein gutes Beispiel ist die rote Ampel. Wenn man schon sieht, es wird Rot, dann wird trotzdem nochmal für die letzten 20 m beschleunigt und dann eine Vollbremsung hingelegt. Und zwar jedes Mal…
Eine andere nervige Sache ist, dass scheinbar davon ausgegangen wird, dass wir genauso begriffsstutzig wie die Inder sind. Im Restaurant wird einem ein Salat serviert. Dann kommt extra noch jemand anderes und erklärt einem „Das ist der Salat.“ Aha, danke, gut zu wissen…
Mit Muthi kann man echt gut reden, vor allem hat er auch Ahnung von Indien (trotzdem beliest man sich jedes Mal danach und checkt ob die Infos auch stimmen *g*). Jedenfalls gehören in Indien 30% der Menschen der Unterschicht an. Hier lebt man von unter 1$ pro Tag, d.h. die Leute haben absolut nichts! 50% sind Mittelschicht (unterteilt in untere, mittlere und obere Mittelschicht). Einkommen: von 50 EUR bis 600 EUR im Monat. In den Städten können diese Leute lesen und schicken ihre Kinder auf Schulen und Universitäten – je nach Geldbeutel auf staatliche oder private. Die Oberschicht stellt nur einen kleineren Teil dar, Verdienst: 600 – 1200 EUR. Damit kann man hier abrocken. Viel sieht man davon aber nicht. Klar, auf dem Dorf gibt es davon fast niemanden und in Städten wie Bangalore oder Mumbai viel mehr, aber in Coimbatore sieht man nur selten reiche Leute, obwohl es hier viele geben soll. Wir gehören als nicht, wie manche denken, zu den absolut Reichsten hier. Uns geht es sehr gut, aber es gibt halt viele, die noch mehr haben (abgesehen von den oberen Zehntausend, Milliardäre gibt es in Indien auch ne Menge)…
In den letzten Jahren wurde es wohl unter Reichen Leuten Sitte, Colleges zu gründen. Ist wohl eine sehr gute Einnahmequelle. Jeder kann dies tun wie er will und wie er es für richtig hält. Saftige Gebühren - und schon hat man eine sprudelnde Geldquelle. Semestergebühr: 1000 – 5000 EUR! Das die Bildung dabei natürlich keineswegs hoch ist, oder gar mit Europa verglichen werden kann, ist klar. Trotzdem gibt es allein in Coimbatore Hunderte! Neulich haben wir einen Zeitungsartikel gelesen, in dem erklärt wurde, dass die Regierung nun langsam Maßnahmen dagegen einleiten möchte, aber das kann dauern. In Niewos Büro geht aber einer auf solch ein College, obwohl seine Eltern kein Geld haben. Er nimmt dann einen Kredit dafür auf. Verhältnisse wie in den USA also und wohl früher oder später auch bei uns, wenns weiter geht…
Vor ein paar Tagen gab es den ganzen Tag über keinen Strom in der Stadt. Niewo fragte dann, ja wie, warum? - Kontrollarbeiten. Warum sie es denn dann nicht nachts machen oder wenigstens ankündigen? - Nachts brauchen doch alle Strom für die Ventilatoren zum Schlafen und außerdem ist es doch egal, fällt halt mal ein Tag die Arbeit unangekündigt aus :-)
Cool ist immer das Zeitmanagement. Swapna fragte Laura neulich 20 min vor Unterrichtsbeginn, ob sie denn nicht essen gehen wollen. Laura meinte, hm naja muss ja gleich unterrichten. Ach, schaffen wir schon. Nun ja, 3 min vorher kam grad mal das Essen, dann aß man aber in aller Ruhe. „Du bist doch sonst immer pünktlich, kannst du auch mal später kommen.“ Die 24 Studenten haben aber auch nichts dazu gesagt, also Laura 30 min später eintraf…
Da Niewos Eltern grade umgezogen sind, fiel uns das mal so auf: die Inder haben so gut wie keine Schränke. Schlicht und einfach weil sie fast nichts besitzen. Kleidung und Fernsehschrank - das wars schon fast. Voll krass, da tun sie einem immer echt leid. Wenn man mal überlegt, wie vollgestopft unsere Zimmer alle sind!
Lustig ist immer, dass hier sofort nach Beendigung einer Sache (Film im Kino, Essen, Tee, etc.) aufgestanden wird. Eine halbe Sekunde nach Schluss stehen schon alle und verlassen den Raum…
Neulich hatten wir dann unser German Dinner. Wir haben Lauras Arbeitskollegen eingeladen und gesagt, wir wollen ihnen gerne mal zeigen, wie man so ein Essen in Deutschland macht. War echt viel Arbeit. Und dann: erstmal kommt Sam mit Eltern und Bruder. Dann Lakshmi mit Mann, Kind und Bruder des Mannes; Kamath ein Glück wie abgesprochen nur mit Frau. Insgesamt also viel mehr als gedacht (insgesamt 16), aber das passte einigermaßen mit Tisch und so. Gleich zu Beginn ging es los: niemand wollte sich an den Tisch setzen, alle standen oder saßen auf der Couch „No, no – no problem“. Ja, wie was, kein Problem, wenn niemand sitzt, wie dann essen? Nach einer Ewigkeit haben wirs dann geschafft, dass sie sich setzen. Erster Gang: Salat. Alle stochern rum, keiner isst was. Was kann man an Salat aussetzen???????? Zweiter Gang: Mohrrübeneintopf. Ging so, man aß wenig, aber immerhin. Danach wurde es immer weniger. Nach einer Stunde meinten dann Lakshmi und Familie, sie müssen jetzt los – mitten im Essen! – weil die Tochter zu Hause wartet. Sam und Familie auf einmal auch: „Ach ja, wir auch, der Bus fährt.“ Waren wir ganz schon enttäuscht und auch ein bisschen wütend. Naja, Kamath und Frau plus Christa blieben noch und aßen alle Gänge. Und fanden es auch gut. Aber die anderen … sorry, aber die sind echt einfach zu dumm, mal was anderes als ihren Reis auch nur mal zu kosten. War trotzdem ganz nett, haben sich ja auch alle bedankt und fanden die Deko toll - Kerzen, Blumen und Servietten etc. - aber gewürdigt bzw. überhaupt gemerkt, was der Unterschied ist zu einem Essen bei ihnen hat wohl niemand. Man versteht gar nicht, dass sie überhaupt nicht interessiert sind an anderem Essen oder Traditionen. Nächstes Mal machen wir ein Gang mit Vorspeise, und nur ein Gast, das passt besser…
Homosexuelle werden hier übrigens als krankhaft angesehen. Steht auch unter scharfen Strafen. Als Anjaneysh mich da mal nach befragte und ich ihm erklärte, dass es keine Krankheit ist, sondern angeboren und es das in jeder Kultur gibt, auch bei Tieren usw. - es also „natürlich“ sei und eben genau nicht „unnatürlich“, konnte er es nicht mal im Ansatz verstehen. Leider ist unser Englisch da zu schlecht, um darüber intensiver zu diskutieren. Niewo hatte dann extra mal nachgelesen. Im Hinduismus wird darüber nichts Negatives gesagt, im Gegenteil. Damit am nächsten Tag konfrontiert, wurde aber schnell das Thema gewechselt. Dabei muss man natürlich bedenken, dass wir in Deutschland vor 20/30 Jahren ja auch nicht weiter waren (manche ja heute noch nicht). Dies gilt für viele Dinge, man denkt immer krass, aber dann fällt einem ein, dass in unserer Elterngeneration vieles für uns auch unvorstellbar war (Kinobesuche verboten und solche Sachen)…
Gegenüber von uns befindet sich ja eine Baustelle. Da kann man immer gut beobachten wie effizient hier gearbeitet wird. Zurzeit pinselt einer die Fassade mit einem kleinen Pinsel!
Hoffentlich klang das alles nicht zu negativ. Macht uns immer noch Spaß alles. Man hat ja die tollen Wochenenden. Ein Jahr geht ja auch schnell rum…
Am Samstag fliegen wir nach Kalkutta und werden zwei Wochen nach Delhi reisen (per Bus und Bahn). Dort treffen wir dann Lauras Eltern und Konrad + Andrea. Zusammen geht es dann zwei Wochen durch Rajasthan (mit Auto). Danach folgen noch neun Tage Delhi (Laura hat Fortbildungen, Niewo Ferien). Also erstmal ne lange Auszeit – mal sehn wie es im Norden so ist.
Fotos 10: Ooty + Coonoor, Madurai + Tanjore + Trichy
Soweit,
lg L+N