21. Januar 2010

Valparai, Pongal und Besuch von Mike & Rapi

Hallo,
uns geht es gut. Die Mails werden irgendwie immer länger, aber es gibt so viel spannende Sachen zu berichten:

Langsam wachsen unsere sozialen Kontakte und man unternimmt Ausflüge mit anderen oder wird nach Hause eingeladen. Dann war letzte Woche Pongal, das südindische Neujahrsfest (hier gilt der Mondkalender, jedenfalls für Feiertage und Feste). Das hieß vier Tage frei und eine Menge Programm. Inzwischen haben wir auch andere kulturelle Termine in Erfahrung bringen können und so ein wenig Abwechslung genossen. Jede Religion und jede Region hat seine eigenen Feiertage, also ganz anders als bei uns - manche Leute feiern und andere nicht.


Der Einfachheit halber wie beim letzten Mal einfach in Absätzen:

In der Mittagspause geht Niewo öfters zur Rasur, äußerst angenehm, zusammen mit einer kleinen Kopfmassage (zusammen 20 Cent) lässt es sich so gut pausieren…

Ansonsten gönnen wir uns nur abundzu eine Massage, ist nicht so billig. Schon mal wer Ayurveda-Massagen gehabt? Ganz cool eigentlich, am Körper wird es mit Öl und heißen Tüchern, die mit Kräutern gefüllt sind, gemacht. Die Kopfmassagen sind dafür recht heftig, mit Schlägen und Haareziehen, da muss man sich erstmal dran gewöhnen…

Auf dem jährlichen Fest an Lauras Schule hielt die städtische Schulbeauftragte eine ziemlich gute Rede, die einem irgendwie bekannt vorkam. Sie sprach zu den ganzen reichen Eltern und Kindern über die Entwicklung des Nachwuchses. Sie sollen doch bitte morgens frühstücken und nicht nur Geld mitbekommen für einen Snack. Auch nach der Schule soll der Chauffeur nicht an Fast Food-Ständen halten. Stattdessen soll es ein gesundes Mittagessen geben. Cola, Fanta und Co. sind nicht für den täglichen Konsum (sie erklärte dann noch, wie viel Zucker drin ist). Alte Essenstraditionen sind ok, zudem ist Obst gesund. Kinder müssen sich bewegen, anstatt immer mit Fahrer herumkutschiert zu werden. Auch mal zu Fuß oder per Fahrrad unterwegs sein. Nicht den ganzen Tag vor dem Computer hängen und abends mit der Familie vor dem Fernseher. Man muss sich mit Kindern beschäftigen, reden, spielen etc. Manieren sind auch heutzutage wichtig, zu alten Menschen soll man freundlich sein, sich nicht über sie lustig machen…

In Niewos Büro gibt es jetzt einen Praktikanten aus Bangalore, ein typischer Vertreter der neuen modernen Klasse. Er geht aus, hat eine Freundin, trinkt Bier, zieht westliche Sachen an etc. Wenn man fragt, was seine Familie dazu sagt: es wird nicht darüber geredet! Auf Nachfragen, dass sein Vater ja nicht dumm ist, meinte er nur, er weiß es wirklich nicht, es wird absolut nie über so etwas geredet. Selbst mit seinem Bruder nicht! Er persönlich findet Leute wie Niewos Chef, die sehr traditionell leben, ok, jeder seins - aber die meisten seiner Freunde finden sowas lächerlich und machen sich über diese Leute lustig…

Nivi, eine andere Studentin, hat erzählt, dass sie nach dem Studium dann auch verheiratet wird. Findet sie aber ok. Was passiert, wenn sie jetzt einen Freund haben will? Wäre vielleicht sogar ok, denkt sie. Sie war aber angeblich noch nie (Schule, Studium) verliebt, so dass ihr dieser Gedanke oder diese Situation wohl noch nie in den Kopf kam …

Vor zwei Wochen haben wir hier eine Bar entdeckt, in die junge Leute gehen. Es wurde sogar getanzt und sowas wie Partystimmung kam auf. Zwei Mädchen (!) haben uns dann sogar gefragt, ob wir tanzen wollen. Wir haben gesagt ok, wir trinken nur noch aus. Wir haben dann noch jeder zwei Mut-mach-Schnäpse getrunken (die Inder haben sehr, nun ja, ausgelassen, eher wie Kinder, getanzt) und gingen auf die Tanzfläche, da sagten sie „Hey cool, aber wir müssen jetzt los (22.30 Uhr), das Studentenwohnheim macht gleich zu.“ :-(

Inzwischen haben wir auch schon mehrere Unfälle gesehen und neulich sogar unsere ersten Toten. Voll Krass, aber bei der Fahrweise kein Wunder. Sonntag fuhren wir mit Freunden im Auto, da wurde es einem echt Angst und Bange. Eigentlich müsste man was sagen oder aussteigen, aber das traut man sich dann auch nicht. Bzw. Laura hat sogar zwei Mal gesagt ihr wird schlecht bei der schnellen Fahrt - aber hat nix genützt…

Die beiden (Swasti und Muthi) sind bei sehr fortschrittlich denkende Inder. Sie sind verliebt, entgegen ihrer Kaste zusammen und sogar verlobt. Heirat ist im Herbst. Sie dürfen am Wochenende Ausflüge machen, auch über mehrere Tage (mit Freunden), aber er darf nicht zu ihr nach Hause! Sie darf noch nicht einmal ein Foto von ihm im Zimmer aufstellen. Als wir bei ihr waren und gegessen haben, musste er draußen 1 ½ Stunden warten! Noch nicht mal vor dem Haus, sondern woanders, wir haben dann von da eine Rikscha genommen!

Mit denen haben wir uns auch mal über Beziehungen und Sex unterhalten. Z.B. schlafen ja Eltern und Kinder (bis sie verheiratet sind!) in einem Bett. Wenn die Eltern mal allein sein wollen, schlafen die Kinder bei der Oma. Sex dient fast nur dem Kinder machen. Selbst bei Swasti und Muthi, 24 Jahre, frisch zusammen, denkt man ja, da geht was - nee, wenn sie mal irgendwie zufällig alleine sind, ist Sex „nicht das wichtigste“, ist doch nur „eine halbe Stunde Spaß, es gibt so viel mehr Probleme“. Und das im Land wo das Kamasutra erfunden wurde…

Eklig ist wirklich die Hygiene. Im Restaurant wird derselbe Lappen für die Tische, wie für den Boden und wer weiß was noch verwendet…

Die meisten Frauen sind hier ziemlich sexy, jedenfalls von hinten, besonders in der Kleidung. Laura hat leider Pech: es haben wirklich ausnahmslos alle Männer, außer manche Studenten, einen Schnurbart. Und zwar meist keinen besonders attraktiven. Dazu die geilen 70er Jahre Hosen + Hemden sowie die Frisuren, herrlich…

Im Fernsehen und Kino gibt es ja auch bei uns freizügige Frauen und Männer, aber irgendwie sind die ja doch relativ nahe an der Realität. Hier hingegen sind Fernsehen und Realität komplett verschieden…

Niewo hatte ja vor ein paar Tagen gekündigt. Anjaneysh möchte nun nicht, dass er geht, da dann sein Ruf ruiniert ist (Motto: der Deutsche wechselt das Büro wegen ihm). Naja, mal sehn, muss er mit leben. Er meinte aber, ob Niewo denn mehr Projekte haben will (bis jetzt hatte er ja noch nicht mal ein einziges!) Niewo: Klar. Dann muss er aber „ganz fleißig sein“, weil die anderen im Büro können ihm nicht helfen, die sind alle beschäftigt. Ähm ja, da weiß man nun wirklich nicht, was man dazu sagen soll…

Was wirklich nervt, ist das einkaufen. Es dauert teilweise sooo ewig. Gestern hat Niewo Teller und Tassen gekauft. So schnell hat bestimmt noch kein Inder Befehle bekommen, was er in den Korb packen soll. (Befehle klingt jetzt hart, aber wir versuchen immer sehr nett zu sein, aber in Indien wird mit allen Untergebenen und Servicepersonal umgegangen … oh mann. Aber das ist halt so, Bitte und Danke etc. wird hier nicht verwendet). Wenn man dann an der Kasse ist, bekommt man dort den Bon. Damit geht man woanders hin und bezahlt, danach holt man wieder woanders die Ware ab (auch wenn es nur eine Packung Servietten war) und wieder jemand anders packt es dann ein. Jedenfalls hat der Typ 1h 15min die Teller eingepackt! Zwischendurch selten mal jemand anders bedient, aber die meisten haben einfach schweigend gewartet, bis sie dran waren. Niewo ist bald gestorben …

Zeit und vor allem Arbeitszeit, kostet halt nix.

Wir waren jetzt des Öfteren bei Leuten zu Hause eingeladen. Sie sind jedesmal total gastfreundlich. Es ist auch immer sehr interessant, aber leider total anders als bei uns. Sie servieren Essen, aber die anderen essen nicht mit. Es ist jedes Mal viel zu viel, und man schafft es auch nicht weniger zu bekommen. Die Gespräche sind eher verkrampft und fast nur von unserer Seite am Aufrechterhalten (außerdem sprechen auch nur die Jüngeren englisch). Die Inder kennen keine Gesprächskultur, Unterhaltungen finden selten statt. Eigentlich völlig unglaublich, wenn man bedenkt, dass sie ja extra bei der Familie wohnen wegen sozialen Kontakten. Und dann kommen manchmal einfach Verwandte rein, grüßen einen nicht und setzten sich in eine Ecke und gucken einen an. Man kommt sich immer vor wie im Zoo. Aber was noch schlimmer ist: man hat das Gefühl selber auch im Zoo zu sein und die Inder anzugucken. So wie von außen irgendwie…

Auch wenn in den Städten viel Verwestlichung herrscht, bei Männern Hosen die Röcke ersetzt haben und junge Mädchen auch schon mal in Jeans anzutreffen sind, ändert das alles nichts an der Lebendigkeit der Tradition. Wie einem spätestens beim Tempelbesuch klar wird - wo dieselben Inder hingebungsvoll Ratten verehren. Oder wenn der Taxifahrer eben noch mal schnell anhält, um ein Bananenblatt voller Rosenblüten zu kaufne, um es über dem auf dem Armaturenbrett festgeklebten goldenen Ganesha auszuschütten. Oder wenn das nagelneue Auto mit einem riesigen roten Hakenkreuz auf der Motorhaube verziert wird. Oder wenn der (leicht in die Breite gehende) Herr mit Handy am Ohr im Schneidersitz auf dem Nacken eines Elefanten sitzt, den er gerade reitet…

Der Hinduismus und Tiere: Eigentlich gibt es keinen Unterschied zwischen Mensch und Tier. Beide sind beseelt, beide unterliegen dem Wiedergeburtssystem, beide werden je nach früheren guten oder schlechten Taten in ihre jetzige Daseinsform hineingeboren. Insofern kann es durchaus sein, dass die Seele, die jetzt in dieser Kuh wohnt, früher einmal ein Mensch war. Einige Götter sind halb Mensch, halb Tier, andere sind ganz Tier. Und genau das schafft die Basis für die Verehrung, deren Ziel praktisch jede Art von Tier werden kann, ob „nützlich“ wie die Kuh oder „gefährlich“ wie die Schlange oder „eklig“ wie die Ratte.

Indiens Kühe sind frei, in jeder Hinsicht. Frei, alles zu tun, was sie wollen. Nie käme jemand auf die Idee, ihre Freiheit durch einen Zaun einzugrenzen. Auf der anderen Seite sind sie auch vollkommen frei, sich ihren Lebensunterhalt selber zusammenzusuchen. Ihre Heiligkeit ist zwar Handlungsaufforderung, sie nett zu behandeln, doch ihre armselige Realität sieht anders aus. Ärmste vernachlässigte Kreaturen sind sie, die ihre Nahrung mühsam aus dem Exkrement menschlichen Lebens zusammensuchen müssen. Abends kommen Leute zum Melken und sammeln die Milch in großen Alukannen, die rechts und links am Moped befestigt sind. Woher die Kühe die Milch kriegen, ist den Melkern vollkommen egal. Weiden sucht man in Indien vergeblich. Und so stehen die Kühe meistens in irgendwelchen Müllhaufen herum und suchen sich das wenige Nahrhafte zwischen Plastik, Papier und Styropor heraus.
Noch besser: Wenn man eine Kuh füttert, hat man eine heilige Handlung ausgeführt und kann sein Karma verbessern!

Eigentlich ein gut funktionierendes System: Der Müll wird einfach an den Straßenrand auf Haufen gekippt. Die Kühe suchen sich dann das organische Material heraus: Obst- und Gemüse-Schalen, verdorbene Lebensmittel, Essensreste. Was übrigbleibt, ist ein undefinierbarer Haufen mit einem sehr hohen Plastikanteil, der dann und wann angezündet wird.
Aber wenn man dann mal überlegt: Die Fütterung aller indischen Kühe mit Gras wäre für Indien unmöglich, weil der Bevölkerungsdruck groß ist und sehr wenig fruchtbare Flächen zur Verfügung stehen. Noch krasser wäre es, wenn man Kühe für die Fleischerzeugung fütterte - es käme dann einer Verknappung und Verteuerung aller landwirtschaftlichen Erzeugnisse, mal abgesehen von den hohen Fleischpreisen…

Fotos 09: Valparai, Pongal und Besuch von Mike & Rapi

Soweit,
lg Laura + Niewo